Es war bei einer Familienfeier, bei einem jener Gespräche, die lediglich dem Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppe dienen. Eines jener Gespräche, die manchmal Neuigkeiten austauschen, aber meist jedoch ältere Geschichten noch einmal auflegen.
Daran ist nichts Verwerfliches. Vor einigen Jahrzehnten war das die einzige Möglichkeit, Familiengeschichte zu bewahren und weiter zu geben. Heute gibt es Foto und Video und leider oft auch ein gebremstes Interesse an den eigenen Wurzeln. Es war, wie gesagt, bei einer dieser munteren Plaudereien, welche mehr für Breite als für Tiefe gedacht sind. Ausgerechnet da streifte uns – also mehr mich – plötzlich ein Hauch kultureller Entwicklung und offenbarte eine persönliche Lücke in der Verwendung der eigenen Muttersprache. Da aber die Gesellschaft nicht bereit und willig war, von Trivialthemen, wie Nachbars Katze, beinahe umgefallenen Handfegern oder ähnlich interessantem Geschichtsgut abzuschwenken, blieb die Chance ungenutzt.
Ich lade daher nun den geschätzten Leser und die geschätzte Leserin ein, sich kurz mit dem Thema zu befassen:
Jeder kennt den Begriff “verschollen”. Spätestens seit Tom Hanks’ Glanzleistung im gleichnamigen Film assoziiert man nicht mehr nur die letzte Nachricht zum Verbleib eines Verwandten im Krieg damit.
“Er ist verschollen”. Aber wie lautet dazu das korrekte Verb? Wie heißt es, wenn ich es gerade aktiv durchführe? “Ich verscholle gerade.”?
Erster Ansatz: Wie wäre es mit der Parallele zu “verglühen”? “Er ist verglüht”. Dann wäre das Verb “glühen” und es heißt “ich glühe”.
Dies wäre dann bei “verschollen”, “schollen” und “ich scholle”. Was soll das denn sein? – Unsinn!
Nun teilt sich sicher die Leserschaft in drei Teile. Die ersten werden schon aus Desinteresse weggeklickt haben. Schönen Tag noch! Ein zweiter, kleinerer Teil wird sich wissend zurück gelehnt haben. Respekt! Für alle anderen habe ich die Auflösung. “Verschollen” kommt von “verschallen”, “Schall”. Es bedeutet soviel wie “klingen”, “verklingen”, “verklungen”. “Ich schalle”, “ich verschalle”, “ich bin verschollen” und habe aufgehört, gehört zu werden, wie ein Lied, das zu Ende ist. Es ist zwar weg, aber keiner weiß, wohin.
Ich finde, das ist ein sehr prosaisches Stück Muttersprache, was es sogar wert wäre, Stoff für die eine oder andere Unterhaltung zu liefern.
Aus der Rubrik „Karl Pfefferkorn (1897-1961) zieht vom Leder“