Bernd war früher ein ganz normaler Mensch. Er war unkompliziert. Auch was seine Ernährung betraf, hat er keine großen Umstände gemacht. Er hat das gegessen, was normale Menschen halt so essen. Hat es nicht übertrieben. Vieles schmeckte ihm, manches nicht. Wenn er zum Essen eingeladen war, brauchte man sich kaum Gedanken machen. Er aß das, was alle essen. Es waren immer schöne Gespräche bei Tisch. Alles war in Ordnung. Dann lernte er Maike kennen. Sie ist Veganerin. Das hat sie gleich gesagt, als Bernd sie uns vorstellte. Ja, war jetzt nicht ganz so einfach, für sie immer eine vegane “Extrawurst” zu organisieren und zuzubereiten. Aber was macht man nicht alles als sozial kompetenter Zeitgenosse. Schlimmer wurde es, als auch Bernd anfing zu konvertieren.
Zuerst waren es nur seine schuldbewussten Blicke, wenn man ihm das Essen auf den Teller schöpfte. Später seine übertriebene Zurückhaltung und dann hatte die Gehirnwäsche vollends gegriffen. Es gab Belehrungen über Massentierhaltung, Energiebilanzen, Hunger in der Welt und den Klimaschutz. Zum Essen mussten jetzt die Verpackungen der verwendeten Zutaten aufbewahrt und vorgezeigt werden. Diese wurden dann ausgiebig studiert und ausgewertet. Ich legte meine gewohnten Tischsitten ab und begann bereits vor den Gästen zu essen. Bis die soweit waren, war alles kalt. Sinnvolle Gesprächsthemen gab es dann auch nicht mehr, wir mussten ja schließlich bekehrt werden. Also missionierte Bernd, was das Zeug hielt. Fleisch müsste doch nicht unbedingt aus Fleisch sein, argumentierte er. Die veganen Varianten würden genauso schmecken. An der Stelle hätte ich besser nicht einhaken sollen. Ich verstehe bis heute nicht, warum sich jemand etwas zusammenbasteln lässt, was nach Fleisch aussieht und wie Fleisch schmecken soll, wenn er eigentlich kein Fleisch essen will. Na, der Rest des Abends war gelaufen. Eigentlich waren wir schon kurz davor, den Kontakt zu Bernd und Maike zu beenden.
Da passierte das Unglaubliche, eine Ironie des Schicksals: Maike hatte Bernd verlassen und war ausgerechnet mit einem Metzger durchgebrannt. Das hat unseren armen Bernd völlig aus der Bahn geworfen. Sämtliche Weltbilder stürzten ein. Da war einerseits der Trennungsschmerz. Für Maike hatte Bernd sein ganzes Leben umgekrempelt. Dann war da auch noch die Wut auf den Rivalen. Wie sollte er jetzt weiterleben? Und vor allem: Was sollte er jetzt essen? Weiter vegan, wie die verlogene Freundin? Wieder Fleisch und Wurst beim Metzger holen? Das ging auch nicht. In seiner Verzweiflung suchte Bernd nach etwas, was genau das Gegenteil von beidem ist. Er begann Lebensmittel zu verwenden, welche wie Obst, Gemüse oder Salat aussahen, aber aus Fleisch bestanden. So knetete er Gehacktes in die unterschiedlichsten Formen und aß es z.B. als Brötchen zum Frühstück. Ein Salat war grundsätzlich Fleischsalat und auch in der Obstschale lagen nur Würstchen. Bernd bedauerte es, dass die Lebensmittelindustrie hier noch gar nichts im Angebot hatte. So ein Erdbeerkuchen, der nach Erdbeeren schmeckt, aber zu 100 % aus Fleisch ist, so etwas gab es einfach nicht. Während Bernd als Veganer einige Pfunde verlor und kurz nach der Trennung noch mehr auszehrte, hatte er inzwischen wieder gut zu gelegt. Er war sogar mehr Bernd als früher, sogar sehr viel mehr. Die gesundheitlichen Probleme nahmen zu und schließlich musste er sich in Behandlung begeben. Er hat sich und sein Leben aber nun wieder im Griff, isst das, was normale Menschen halt so essen. Übertreibt es nicht. Vieles schmeckt ihm, manches nicht. Wenn er zum Essen eingeladen wird, braucht man sich kaum Gedanken machen. Er isst das, was alle essen. Es sind immer schöne Gespräche bei Tisch. Manchmal jedoch nimmt er sich eine Scheibe Wurst, dreht und faltet sie so, dass sie wie eine Blüte aussieht, schaut sie liebevoll an und meint: “Das gäbe einen schönen Salat.”
Aus der Rubrik „Karl Pfefferkorn (1897-1961) zieht vom Leder“