2008 hatte mein Heimatort seine 700-Jahrfeier. Die Älteren erinnern sich aber auch, dass Großsteinberg 1985 sein 650jähriges gefeiert hat. Wer noch die aussterbende Kunst des Kopfrechnens beherrscht, wird messerscharf erkennen, dass das nicht passt. Großsteinberg müsste danach in 23 Jahren 50 Jahre älter geworden sein. Das lässt sich auch mit unserer schnelllebigen Zeit nur schwer erklären.
Die Ursache liegt in der Anwendung zweier unterschiedlicher Urkunden als Ersterwähnung. Das macht die Grundproblematik solcher Jahrfeiern deutlich: Es wird nicht wirklich der “Geburtstag” gefeiert. Man weiß eigentlich gar nicht, an welchem Tag die ersten Menschen an der Stelle angehalten und einen Ort gegründet haben. Man weiß auch nicht immer, warum genau an dieser Stelle gesiedelt wurde. Doch das ist meist nahe liegend. Neben einem “guten” Platz gab es auch die Kriterien wie nahe Gewässer und bestehende Handelswege.
Früher – und da meine ich schon Zeiten vor dem Mittelalter – hat man große Strecken zu Fuß und mit Pferd- oder Ochsenkarren überwunden.
Heute geht man in der Regel maximal vom Parkplatz zum Büro und zurück. Wenn man zu spät ist und nur einen Parkplatz drei Straßen weiter bekommt, dann ist man weit gelaufen.
Früher lief man Tage lang. Unvorstellbar. Man brauchte dann einen Platz zum Übernachten. Das galt noch mehr, wenn man mit Pferd und Wagen unterwegs war. Eine Raststation direkt am Weg war sehr hilfreich und für die Betreiber meist gewinnbringend. Es entwickelten sich Gasthöfe, Schmieden und viele brauchbare Dinge rundherum.
Als sich unsere Fortbewegungsmittel immer mehr wandelten und wir mit Autos unterwegs waren, brauchte es auch andere Straßen. Auf Autobahnen legen wir nun hunderte Kilometer an einem Tag zurück.
Nun rauschen die Autos und LKWs durch unsere Städte und Dörfer einfach durch. Sie müssen nicht mehr halten, übernachten und die Pferde wechseln.
Eine Auspuffgase ausströmende Blechlawine vor der Haustür, die außer Dreck und Lärm nichts hinterlässt, will niemand. Deshalb baut man seit geraumer Zeit Umgehungsstraßen um die Orte. Man will endlich Ruhe vor dem vielen Verkehr.
Inzwischen hat sich aber eine neue Form von Verkehr gebildet: Der Datenverkehr. Auch hier spricht man inzwischen von “Datenautobahnen”.
Doch jeder will am liebsten ganz dicht dran sein an den Knoten der Internetprovider. Man zapft die Daten an und versendet immer mehr ins Netz der Netze. Wer hier die meiste Bandbreite hat, kann alle Möglichkeiten von Cloudcomputing und Streaming-HQ-Media nutzen. Wer weiter weg vom Datenstrom angesiedelt ist, hat das Nachsehen. Egal ob Privat- oder Geschäftsmann. Die Großstädter sind im Vorteil. – Noch!
Wer nun aus der Geschichte gelernt hat, wird wissen, dass es nur ein historisch kurzer Zeitraum ist, in dem man sich an den Knoten der Verkehrsströme ansiedelt. In hundert Jahren sieht das alles anders aus. Letztendlich werden Wohnsiedlungen doch den Vorzug der Ruhe genießen. Sie werden dann einen Vorteil haben, wenn die Datenströme einen Bogen darum machen.
Ich wohne also gar nicht dort, wo man den Anschluss verpasst, sondern dort, wo man der Zeit voraus ist. Wir haben bereits etwas, worum man uns in der Zukunft beneiden wird. Die Datenautobahnumgehungsstraße. Das erinnert mich irgendwie an “überholen ohne einzuholen”[1]. Allerdings ging das auch daneben.
[1] Diese Parole entstand aus einer Rede Walter Ulbrichts von 1959:
„Die Wahrheit ist doch die: Die DDR wird bis 1961 auf allen wichtigen Gebieten der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Konsumgütern Westdeutschland einholen und zum Teil übertreffen.“ Daraus wurde zunächst „einholen und überholen“ und später „überholen ohne einzuholen“.
Aus der Rubrik „Karl Pfefferkorn (1897-1961) zieht vom Leder“