Verehrte Leserschaft, kennen Sie das Gefühl, wenn die Welt um Sie herum Purzelbäume schlägt und Sie selbst noch versuchen, Ihre Schuhe richtig zuzubinden? Nun, genau dieses Gefühl beschleicht einen dieser Tage immer öfter. Man kommt sich vor wie Dornröschen, das nach hundertjährigem Nickerchen aufwacht und feststellt, dass die Kutsche gegen einen selbstfahrenden Untersatz mit fragwürdiger Parkplatzfindungskompetenz eingetauscht wurde.
Vor hundert Jahren, meine Damen und Herren, sah die Welt noch ein wenig… gemächlicher aus. Stellen Sie sich das mal vor: Kein Internet, kein Smartphone, nicht mal ein Toaster!
Und heute? Kaum hat man sich an die Sprachsteuerung des Kühlschranks gewöhnt, flüstert einem die Kaffeemaschine schon wieder ungefragt Wettervorhersagen ins Ohr. Das Auto will lieber mit künstlicher Intelligenz diskutieren, als einen einfach nur von A nach B zu bringen, und die Waschmaschine hat mehr Programme als ein russisches Raumfahrtzentrum. Wenn man vor hundert Jahren von einer „Wolke“ sprach, meine Damen und Herren, dachte man schlicht an das Gebilde am Himmel, nicht aber daran, dass Daten irgendwo „in der Wolke“ herumschwirren und sie sich vielleicht jemand unbemerkt „klaut“.
Man fragt sich unweigerlich: Muss das alles so schnell gehen? Hat unser armes Gehirn überhaupt noch Kapazitäten frei, um all diese „Innovationen“ zu verarbeiten? Oder sind wir nicht längst an einem Punkt angelangt, an dem wir uns sehnlichst nach einer Welt zurücksehnen, in der die größte Aufregung darin bestand, ob die Milch sauer geworden ist? Damals, vor hundert Jahren, traf man sich im Dorfkrug – persönlich! Da wurde geredet, gestritten und gelacht, ganz ohne flimmernde Bildschirme und digitale Übertragungsprobleme.
Selbst die ach so glorreiche technische Entwicklung scheint mit ihrem eigenen Tempo kaum Schritt halten zu können. Kaum hat man das neueste Super-Gadget erstanden, munkelt man schon von der übernächsten Revolution, die das eben noch ach so tolle Ding alt aussehen lässt. Und was ist mit der Perfektionierung? Ach, Pustekuchen! Statt Fehler auszumerzen und Dinge wirklich zu Ende zu denken, wird lieber das nächste unfertige „Must-have“ auf den Markt geworfen. Hauptsache, es blinkt und buzzert irgendwie neu.
Vielleicht, meine Damen und Herren, sollten wir uns tatsächlich eine Scheibe von Dornröschen abschneiden. Nicht die mit dem hundertjährigen Schlaf, aber die mit dem entspannten Aufwachen in eine – hoffentlich – etwas weniger hektische Welt. Wäre es nicht wunderbar, wenn wir uns erst einmal die Zeit nähmen, die bestehenden Errungenschaften zu verfeinern, ihre Macken auszumerzen und sie wirklich nutzerfreundlich zu gestalten, bevor wir uns in die nächste halsbrecherische Innovationskurve stürzen?
Dann könnten wir vielleicht auch die „Dornröschens“ unter uns wieder mitnehmen, diejenigen, die vielleicht eine Weile „geschlafen“ haben oder einfach nicht jeden Hype mitmachen wollen. Denn am Ende des Tages wollen wir doch alle in einer Welt leben, in der die Technik uns dient und nicht umgekehrt. Eine Welt, in der man nicht ständig das Gefühl hat, den Anschluss zu verpassen, nur weil man sich mal einen Moment Zeit für eine Tasse Kaffee und ein gutes Gespräch genommen hat – ohne dass einem dabei das Smartphone vibrierend dazwischenfunkt.
Aus der Rubrik „Karl Pfefferkorn (1897-1961) zieht vom Leder“